Das kommt uns Spanisch vor
Formeln sind nicht beliebt. In meinen Vorlesungen im Fach
Psychologie kann ich das immer wieder feststellen. „Kann man das denn
nicht auch inhaltlich vermittlen,
ohne Formeln?“ werde ich oft gefragt. „Wenn ich später in der
Praxis bin...“, beginnt mein Gegenüber, und dann wird mir
dargelegt, wie gering die Aussichten sind, daß diese Formeln je
wieder relevant sein werden.
Aber
nicht nur, daß Formeln irgendwie überflüssig zu sein
scheinen, sie sind anscheinend auch noch so schwer zu verstehen. Eine
Studentin sprach mich nach der Vorlesung an: „Was Sie uns
erzählen, kommt uns Spanisch vor.“ Das ist ein wunderbarer
Vergleich, für den ich ihr sehr dankbar bin. Was tut man, wenn
man Spanisch verstehen will? Man lernt es. Spanisch kann man lernen,
und Formeln zu verstehen kann man auch lernen. Sicher, es gibt
Menschen, denen es leichter fällt, mit Formeln (oder mit
Fremdsprachen) umzugehen, und anderen fällt es schwerer. Aber es
ist noch keiner gescheitert, der wirklich Spanisch lernen wollte und
die entsprechende Zeit investiert hat. Vielleicht wird man kein Poet,
aber man kann mitreden. Und sobald man das kann, eröffnet sich
einem eine ganze neue Welt. Spanien und Südamerika stehen einem
offen; man kann mit 360 Millionen Menschen auf dieser Welt reden, mit
denen man sich vorher nicht hätte verständigen können.
Formeln kommen Ihnen spanisch vor? Lernen Sie Spanisch.
Formeln eröffnen Ihnen einen neuen Zugang zu Sachverhalten, die
Sie in Ihrem Studium kennenlernen. Dabei soll der Zugang über
Formeln anwendungsbezogene Darstellungen nicht ersetzen, sondern
ergänzen. Ein mehrfacher Zugang von verschiedenen Seiten her
verankert Ihr Wissen deutlich besser. Und wenn Ihnen mal etwas seltsam
vorkommt, können Sie es selbst überprüfen. Sie sind
nicht mehr Ihrer Statistiksoftware ausgeliefert; Sie sind ihr
überlegen und können Fehler (natürlich auch
Ihre Bedienungsfehler) entdecken und Schwächen selbst ausgleichen,
kontraintuitive Ergebnisse selbst nachvollziehen, und eventuell Ihre
Intuitionen korrigieren... oder die Software oder Analysemethode
berechtigt kritisieren. Sie können Verfahren anwenden, die in der
Statistiksoftware nicht implementiert sind, und Vorteile und Nachteile
der verschiedenen Verfahren besser verstehen.
Ob Sie diese oder jene Formel später in der Praxis wirklich
brauchen werden? Ja glauben Sie denn, daß Sie die
Übungssätze in Ihrem Spanischbuch genau so wie dort
aufgeschrieben werden einsetzen können? „Herr Martin kommt aus der
Tür des gelben Hauses.“ Da müssen Sie aber lange warten, bis
diese Situation wirklich so eintrifft. Wenn Sie Spanisch gelernt
haben, werden Sie die Übungssätze längst vergessen
haben, und frei und souverän mit der Sprache umgehen. Genau
dasselbe trifft auch für Formeln zu.
Und nicht zuletzt tun Sie etwas für Ihr Selbstbewußtsein.
Sie erstarren nicht mehr, sobald jemand seine Ergebnisse mathematisch
präsentiert, in der Hoffnung, daß Ihnen niemand ansieht,
daß Sie nur Bahnhof verstehen. Sie überwinden Ihr
lebenslanges Trauma, daß Sie für Mathematik völlig
unbegabt sind. Sie sind es nicht. Der bekannte und geniale ungarische
Mathematiker John von Neumann sagt: “In mathematics you don't understand things. You just get used to them.”
Auch Sie können sich an Formeln gewöhnen, wie an spanische
Vokabeln, und Sie werden stolz sein, daß eine formalisierte
Darstellung eines Sachverhalts für Sie durchschaubar geworden ist,
und daß Sie nun auch bei mathematischen Zusammenhängen mitreden
können.
- Christian Kaernbach
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